Sie nannten ihn Uncle Joe

Die Pilates Story, veröffentlicht 2011 in der Zeitschrift Fit for Fun.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

Sie nannten ihn Uncle Joe

| von Christo Foerster – Speaker, Coach und Buchautor von Dein bestes Ich®

(…) Uncle Joe war ein Visionär. Ein unglaublich überzeugter sogar. „Ich bin meiner Zeit um 50 Jahre voraus“, sagte er über das von ihm entwickelte Pilates Mitte des letzten Jahrhunderts. Und er behielt recht, Pilates trat seinen Siegeszug an. Denn heute trainieren Millionen Menschen weltweit genau so, wie er es immer gepredigt hat.

Und Uncle Joe, wie Joseph Pilates in Amerika genannt wurde, ist wohl der einzige Fitnessguru, dessen Nachname zum Namen einer derart populären Sportart wurde. Doch die wenigsten seiner Jünger, die in Fitnessstudios, Volkshochschulkursen und zu Hause vor dem Fernseher seine Pilates-Übungen nachturnen (oder was davon übrig geblieben ist), wissen überhaupt, dass es ihn gab – geschweige denn, dass sein Ansatz eigentlich ein sehr männlicher war. Wer also war Joseph „Joe“ Pilates? Und warum haben all diejenigen, die mehr von ihm wissen, andauernd dieses Leuchten in den Augen, wenn sie von ihm sprechen?

Dass Pilates’ Leben bis heute nicht verfilmt wurde, ist bei genauerer Betrachtung ein Armutszeugnis für Hollywood. Geboren wird Joseph Pilates am 9. Dezember 1883 in Mönchengladbach. Sein Vater ist ein herausragender Turner mit eigenen Trainingsräumen, die Mutter von Pilates beschäftigt sich intensiv mit Naturheilkunde, um die neun Kinder kostengünstig über die Runden zu bringen. Als Joseph Pilates fünf Jahre alt ist, verliert er sein linkes Auge, weil ein anderer Junge mit einem Stein etwas zu genau zielt. Es kommt oft vor, dass Joseph einstecken muss – er ist dürr, ständig krank, hat Asthma, rheumatisches Fieber und weiche Knochen. „Pontius Pilates, Mörder von Jesus“ rufen sie ihm hinterher. Als er ein altes Anatomiebuch geschenkt bekommt, beginnt sich das Blatt ganz langsam zu wenden. „Ich habe jede Seite auswendig gelernt, mir jeden einzelnen Muskel eingeprägt. Ich lag stundenlang versteckt in den Wäldern und habe beobachtet, wie Tiere sich bewegen und wie sie es ihrem Nachwuchs beibringen“, so Pilates später.

Er beginnt, sich mit Yoga und altgriechischen Bewegungsphilosophien zu beschäftigen, und vor allem beginnt er zu trainieren. Mit 14 ist er so weit, dass Anatomiezeichner ihn als Modell buchen und keiner mehr über ihn lacht.

Nach dem Schulabschluss arbeitet Pilates in der örtlichen Brauerei, geht boxen, turnen, tauchen und Ski fahren. Mit Anfang zwanzig wird die Abenteuersehnsucht noch größer. Es zieht ihn nach England, wo er als Preisboxer durch die Gegend tourt und mit seinem Bruder Frederick Pilates als Gladiator auftritt. Dann bricht der Erste Weltkrieg aus. Und auch wenn es geschmacklos klingt: Für Pilates sind die Kriegsjahre wegweisend.

So klein er in seinen ersten Lebensjahren oft gemacht wurde, so großspurig tritt Pilates jetzt auf, auch als die Engländer ihn mit anderen Deutschen in ein Lager für Staatsfeinde stecken. Er werde dafür sorgen, dass alle Gefangenen das Lager fitter verlassen, als sie es jemals waren. Zunächst unterrichtet er die Mitgefangenen in Wrestling und Selbstverteidigung, dann wird Pilates in einem anderen Lager sogar eine Art sportliche Krankenschwester. Er soll die Kranken aufpäppeln, und da man ihm sagt: „Du kannst alles mit ihnen anstellen, solange sie im Bett bleiben“, entwickelt Pilates aus Sprungfedern, Bettrahmen und Hochziehhilfen kurzerhand regelrechte Fitnessbetten. Immer im Fokus bei seinen Übungen: langsame, hochkonzentrierte und ganz bewusst ausgeführte Bewegungen zur Stärkung der Körpermitte – des Powerhouses, das seiner Meinung nach das Zentrum eines stabilen, gesunden Körpers ist. Contrology nennt er seine Trainingsform von nun an. Es ist die Urform des heutigen Pilates. Die Bettkonstruktionen werden in leicht modifizierter Form noch heute extra für das Pilates-Training angefertigt.

Als 1918 Millionen Menschen auf der ganzen Welt von der Grippe dahingerafft werden, kommen Pilates’ Schüler alle durch, heißt es. Zumindest ist Pilates bei seiner Rückkehr nach Deutschland ein gefragter Mann. Die Hamburger Militärpolizei heuert ihn an, er arbeitet als Personal Trainer, unbestätigten Quellen zufolge auch für den aufstrebenden Boxer Max Schmeling. Ein paar Jahre später will ihn die neu formierte Wehrmacht als Coach, aber Pilates hat politische Bedenken – und wandert aus. Auf dem Passagierschiff „Westphalia“, das ihn 1926 nach New York bringt, lernt er Clara kennen, seine zukünftige Frau. In der 8th Avenue übernehmen die beiden ein altes Boxgym und machen daraus das erste reine Pilates-Studio der Welt. Auf die Bettkonstruktionen hat Pilates mittlerweile ein Patent, aber sein Erfindergeist ist noch lange nicht am Ende. Er testet Federpedale für die Badewanne und entwickelt den sogenannten Wunda Chair, einen unscheinbaren Holzhocker, der in jedes noch so kleine New Yorker Appartement passt, aber zugleich ein vollwertiges, hochkomplexes Trainingsgerät ist.

Der Zufall will, dass im gleichen Haus mehrere Tanzstudios und -proberäume ansässig sind. Und genau das ist der Grund, warum Pilates’ eigentlich für Männer entwickeltes Training nach und nach eine immer weiblichere Wahrnehmung bekommt. Denn die Tänzerinnen rennen dem deutschen Fitnessguru förmlich die Bude ein. Zwölf Jahre lang besuchen Uncle Joe und Clara (die mittlerweile auch leidenschaftliche Trainerin ist) im Gegenzug das legendäre Dance Festival Jacob’s Pillow in den Berkshire Mountains, um dort die Pilates-Methode zu unterrichten.

Pilates behandelt seine Kunden freundlich, in Sachen Bewegungsausführung aber ist er knallhart. Bei ihm gibt es nur „Friss oder stirb!“. Sprich: Wer eine Übung nicht so ausführen kann, wie erdacht, der ist noch nicht bereit dafür. Keine Anfängervarianten, wie sie heute oft gelehrt werden.

Ein gutes Beispiel sind The Hundred, eine Übung für die Bauchmuskulatur, bei der man aus der Rückenlage die Schultern und die gestreckten Beine nur leicht vom Boden hebt, um dann mit gestreckten Armen parallel zum Boden 100-mal schnell auf- und abzupumpen. Heute wird die Übung oft mit zur Decke gestreckten oder gar angewinkelten Beinen unterrichtet, weil sie so leichter ist. Aber „wenn Uncle Joe sagte, du machst The Hundred, dann hatten deine Beine 3 cm über dem Boden zu sein. Auch wenn du so vielleicht nur 10 Wiederholungen geschafft hast statt der geforderten hundert“, erinnert sich Pilates’ Nichte Mary später. Pilates’ Kompendium „34 Contrology Exercises“ ist die Grundlage für das heutige Pilates-Training, auch wenn viele Trainer die Übungen in ihrer Urform als zu schwierig empfinden.

Dass der Lohn für ein derart forderndes Training deutlich höher ist als der Preis, da ist Pilates sicher: „Nach 10 Sessions spürst du den Unterschied, nach 20 siehst du ihn, und nach 30 hast du einen neuen Körper.“ Die Message kommt an. Sein Studio ist voll von schönen Menschen. Nicht nur Ballerinen, auch immer mehr Schauspieler holen sich bei Pilates den letzten Schliff zur körperlichen Perfektion.

Doch so fitnessbewusst Uncle Joe ist – er liebt auch das Leben, genauer gesagt: Zigarren, Whiskey, Partys und Frauen. Es geht die Legende, dass er auch im tiefsten Winter nur mit einer knappen Sporthose bekleidet durch die Straßen Manhattans lief. Leisten konnte er es sich. Als der Fotograf I. C. Rapoport ihn 1961 in seinem Studio besucht, ist Pilates trotz seiner fast 80 Jahre durchtrainierter als die meisten seiner Schüler. „Als wir uns die Hand gaben, hat er meine wie eine Brezel zerquetscht“, erinnert Rapoport sich Jahre später.

1967 stirbt Pilates. Vermutlich an einem durch den jahrelangen Zigarrenkonsum verursachten Lungenemphysem und nicht, wie oft kolportiert, an den Folgen eines Brandes in seinem Studio. Clara verbreitet seine Fitnessbotschaft weiter. Von New York aus nach Beverly Hills, wo Pilates Schüler Ron Fletcher ein Studio eröffnet, und von dort aus in die Welt. Heute ist Joseph Pilates eine Legende. Dazu passt auch seine Todesanzeige: „Ein Löwe mit weißer Mähne, blauen Augen und Mahagoni-Haut, in seinen 80ern noch so geschmeidig wie ein Teenager.“ Ein richtig guter Typ. (…)

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